Üppige Renten durch Landraub?

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Üppige Renten durch Landraub?

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Veröffentlicht von info@politogo.de in Umwelt · 18 Februar 2020
Tags: PolitikLandraubLandGrabbingKlimaschutzBrasilienBrandrodungAgrobusinessLandtagPensionswerk
Die „Stuttgarter Zeitung“ sprach von einer „Nacht- und Nebelaktion“, als im Februar 2017 eine Kenia-Koalition die Altersversorgung der Stuttgarter Landtagsabgeordneten reformieren wollte. Jahrzehntelang hatten die Volksvertreter privat fürs Alter vorsorgen müssen. Nun hatten sich Grüne, CDU und SPD auf eine üppige Staatspension verständigt. Doch die Hinterzimmer-Kungelei scheiterte, am öffentlichen Aufschrei.
Um jeglichen Verdacht auf Selbstbedienung auszuschließen, setzte Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne) daraufhin eine unabhängige Kommission ein, die Vorschläge ausarbeiten sollte. Zehn Sitzungen und acht Monate später plädierte diese für den Beitritt der Abgeordneten zu dem bestehenden Versorgungswerk für Abgeordnete der Landtage Nordrhein-Westfalen und Brandenburg (VLT). Nach einigem Hin und Her setzten die zeitweiligen Kenia-Koalitionäre dies im vergangenen Herbst mit Stimmenmehrheit durch.

Seit Dezember 2019 sind alle 143 Stuttgarter Landtagsabgeordneten Pflichtmitglied der Anstalt, die am nordrhein-westfälischen Landtag in Düsseldorf angesiedelt ist. Der Beitrag in Höhe von monatlich 1.805 Euro, den der Stuttgarter Landtag jedem Mandatsträger zugesteht, landet direkt dort. Darüber hinaus schießt er 1,2 Millionen Euro in die Verlustrücklage der Einrichtung zu. Weiter stemmt das Land anteilig Verwaltungskosten von rund 185.000 Euro jährlich.

Wer glaubt, das heikle Thema Altersversorgung sei damit vom Tisch, irrt. Bei Menschenrechtsorganisationen sorgte der Beitritt der baden-württembergischen Abgeordneten für Irritationen. Denn das Düsseldorfer Versorgungswerk arbeitet mit einem Partner zusammen, dessen Geschäftsgebaren zuletzt immer mehr in die Kritik geriet. Die Beiträge der Abgeordneten, die sich derzeit auf rund 80 Millionen Euro summieren, werden im Rahmen eines Geschäftsbesorgungsvertrags vom Ärztlichen Versorgungswerk Westfalen-Lippe (ÄVWL) verwaltet. Dieses zählt mit mehr als 60.000 Mitgliedern zu einer der größten berufsständischen Pensionskassen hierzulande. Und, da Ärzte gewöhnlich zu den Besserverdienenden gehören, auch zu einer der finanziell potentesten: Laut jüngstem Geschäftsbericht betrugen die Kapitalanlagen Ende 2018 knapp 12,2 Milliarden Euro. Mit dem Geld seiner Mitglieder wirtschaftet die ÄVWL seit Jahren hervorragend. Und dies trotz weltweiter Niedrig- und Strafzinsen. Während das Vermögen vieler Kleinsparer hierzulande immer weiter schrumpft, erzielte die ÄVWL im jüngsten Berichtsjahr 2018 Vermögenserträge von rund 531 Millionen Euro. Das entspricht einer Nettorendite von 4,3 Prozent. Grund genug für Menschenrechtsaktivisten, sich die Anlagestrategien der ÄVWL genauer anzuschauen.

Auch weil umlagefinanzierte Rentensysteme, in denen die eingezahlten Beiträge unmittelbar zur Finanzierung von Rentenleistungen wieder ausbezahlt werden, aufgrund demografischer Veränderungen (längere Lebensdauer, Überalterung der Gesellschaft) sowie volkswirtschaftlicher Entwicklungen (sinkende Lohnquote) unter Druck stehen. Zugleich schwächen politische Entscheidungen den Renten-Solidarvertrag zwischen den Generationen. Stattdessen forcieren Regierungen in vielen Staaten die private Altersvorsorge. Sie basiert auf dem Kapitaldeckungsverfahren, bei der die Beiträge angespart und verzinst oder in andere Anlageformen investiert werden, bis sie im Leistungsfall ausgezahlt werden.

Von diesem Systemwechsel profitieren insbesondere Pensionskassen, die immer mehr Beitragseinnahmen gewinnbringend investieren müssen. Weltweit sollen staatliche und private Pensionsfonds rund 41 Billionen US-Dollar angelegt haben. „Seit der globalen Finanzkrise ist auch Ackerland vermehrt in deren Fokus geraten“, erläutert Roman Herre, Agrar-Referent bei FIAN Deutschland. Das FoodFirst Informations- und Aktions-Netzwerk, so der volle Name des Vereins, setzt sich dafür ein, dass alle Menschen ohne Hunger leben und sich selbst ernähren können. Nach FIAN-Recherchen ist inzwischen ein Pensionswerk der größte Landbesitzer der Welt: „Die Pensionskasse TIAA von US-amerikanischen Lehrern hat weltweit 850.000 Hektar Land aufgekauft – mehr als die Ackerfläche von Baden-Württemberg“, so Herre.

Doch was hat das mit der ÄVWL zu tun? Laut FIAN ziemlich viel, denn nach Recherchen des Vereins hat auch die deutsche  Ärzteversorgung 100 Millionen Dollar in einen TIAA-Agrarfonds investiert. Dieser soll in den zurückliegenden Jahren in Brasilien 133.000 Hektar Land aufgekauft und zu Sojafarmen umgewandelt haben. Die Ländereien, die etwa die anderthalbfache Fläche Berlins umfassen, sollen in der MATOPIBA-Region im Inneren des Landes liegen. Was kaum bekannt ist: Die Region beheimatet mit dem Cerrado-Biom die größte Savannengebiet Südamerikas und weist die reichste endemische Pflanzenartenvielfalt der Erde auf. Es ist auch die zweitgrößte natürliche Formation des Kontinents und bedeckt mit zwei Millionen Quadratkilometer ein Viertel des brasilianischen Territoriums – eine Fläche so groß wie Spanien, Frankreich, Deutschland, Italien und Großbritannien zusammen. Zugleich gilt der Cerrado als „Wiege der Gewässer“, da er für acht der zwölf brasilianischen Flusseinzugsgebiete von entscheidender Bedeutung ist. Das Quellgebiet fast aller südlichen Nebenflüsse des Amazonas befindet sich in dem Savannengebiet.

Während die Waldrodungen im Amazonasgebiet immer wieder für Schlagzeilen sorgt, geht der Landumwandlung in der MATOPIBA-Region weitgehend unbeachtet von der Weltöffentlichkeit rasant vonstatten. Die Region ist die derzeitige Agrargrenze Brasiliens. „In den letzten Jahren wurde die einheimische Vegetation größtenteils für die Sojabohnen- und Viehzucht gerodet“, beklagte der WWF in einer Studie aus dem Jahr 2017. Der Landhunger hat nicht nur ökologisch dramatische Folgen. Auch soziale und gesellschaftliche Verwerfungen gehen mit der „Nutzbarmachung“ einher. „MATOPIBA ist derzeit das Ziel intensiver Immobilienspekulationen“, ergab die Studie der Umweltorganisation. So verteuerte sich der Preis von Land nach der Rodung innerhalb eines Jahrzehnts um rund 2.000 Prozent.

Auf der Strecke bleibt die lokale Bevölkerung, denen die großen Agrarfarmen häufig den Zugang zu Land und Wasser rauben. Damit verlieren Indigene und Kleinbauern, die meist keine Landtitel besitzen, ihre Lebensgrundlage. Wer sich dagegen wehrt, wird bedroht oder sogar gewaltsam vertrieben. Für dieses Vorgehen hat sich der englische Fachbegriff Landgrabbing etabliert.
Ein schwacher Staat mit handlungsunfähigen Behörden und korrupten Beamten erleichtert die  Umwandlung von riesigen Flächen in Farmland. Unterstützt von privaten Sicherheitskräften organisieren Zwischenhändler systematisch Ackerland, Wälder und Wasser, das sie anschließend an internationale Investoren wie den TIAA-Fonds weiterverkaufen. Auch beim Landkauf durch den Lehrer-Pensionsfonds ging es laut FIAN derart zweifelhaft zu.
In einer im Dezember veröffentlichte Studie beschreibt der Verein ausführlich, wie internationale Investmentfonds und Pensionskassen die Existenz ländlicher Gemeinden in der MATOPIBA-Region Brasilien zerstören. „Die Geldanlage der Ärzteversorgung Westfalen-Lippe in den TIAA-Agrarfonds ist menschenrechtlich verantwortungslos und ökologisch verheerend“, kritisierte FIAN-Referent Herre im Dezember im Investorenportal „Institutional Money.com“.
Ein Vorwurf, den die ÄVWL umgehend als „haltlos“ zurückwies. Man habe bei der Auswahl des Agrar-Investments die Einhaltung etablierter und international anerkannter Nachhaltigkeitskriterien zur Bedingung gemacht. Die Strategie dieses Fonds wolle durch „eine langfristige Verpachtung von bereits etablierten Landflächen einen stabilen und planbaren Einkommensstrom zur Sicherung des Rechnungszinses erzielen", betonte Ulrich Sonnemann Leiter der ÄVWL-Geschäftsentwicklung gegenüber dem gleichen Portal. In die Konversion oder Bewirtschaftung von Agrarflächen sei der Fonds nicht involviert.

Ein vor wenigen Tagen veröffentlichter Bericht des internationalen Recherchenetzwerkes Chain Reaction Research erhärtet dagegen die Vorwürfe. Demnach wurde im vergangenen Jahr auf den Ländereien des brasilianischen TIAA-Agrarfonds massiv brandgerodet. So loderten im August und September 110 Feuer auf vier Farmen des Fonds. Zudem deckten die Recherchen Geschäftsbeziehungen zwischen den Fonds-Farmen und einem mehrfach verurteilten Landgrabber aus Brasilien auf. Dieser soll nach Schätzung eines lokales Gerichts rund 300.000 Hektar Land kriminell erworbenen Landes haben. Bislang wurden Landtitel über 124.000 Hektar per Gerichtsbeschluss annulliert. Die Studienautoren sehen deshalb auch ökonomische Risiken von TIAA-Landinvestitionen in der MATOPIBA-Region.

Damit bleibt die Frage, ob Pensionsgelder hiesiger Volksvertreter Brandrodungen und die Vertreibung von Kleinbauern in Brasilien forcieren. „Die Kapitalanlagen des Versorgungswerkes der Landtage NRW, Brandenburg und Baden-Württemberg sind strikt getrennt von den Anlagen der Ärzteversorgung Westfalen-Lippe. Eine Beteiligung an Landgrabbing-Investitionen besteht nicht“, teilen VLT, ÄVWL sowie die Stuttgarter Landtagsverwaltung fast wortgleich auf Kontext-Anfrage mit. „Bei allen Anlagen des VLT sind ethische Anforderungen zu erfüllen. Dies stellen Entscheidungen des Vorstandes sowie der Geschäftsbesorgungsvertrag mit der ÄVWL sicher“, verweist VLT-Geschäftsführer Hans-Joachim Donath auf den Geschäftsbericht. Dort finden sich jedoch vor allem finanzökonomische „Glaubensbekenntnisse“. So seien etwa bei Investitionen in Fonds oder Unternehmensanleihen Grundsätze der Rentabilität, Liquidität, Mischung und Streuung sowie der Sicherheit zu berücksichtigen. Das Wort Ethik findet sich nicht. Ein Ethikkodex mache bei dem geringen jährlichen Mittelzufluss von rund zehn Millionen Euro keinen Sinn, begründet Donath. Man sei vor allem in hiesige Infrastrukturprojekte investiert, etwa in Windparks, erläutert er.

Trotz der Beteuerungen bleibt FIAN-Aktivist Roman Herre misstrauisch: „Bis heute haben wir keine harten Dokumente gesehen, die ethisch einwandfreie Anlagen des Versorgungswerks belegen“, kritisiert er. Auch müssten sich die Landtagsabgeordneten fragen lassen, ob man mit einem vermutlichen Landgrabbing-Akteur wie der ÄVWL zusammenarbeiten kann.




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