Atomares Rest-Rost-Risiko

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Atomares Rest-Rost-Risiko

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Veröffentlicht von info@politogo.de in Umwelt · 15 Juli 2020
Tags: AtomkraftKernenergieNeckarwestheimEnBWRostrohre
Unbeachtet von der Öffentlichkeit läuft er schon fast ein Jahr: der große Pillenaustausch. Knapp 190 Millionen Jodtabletten hat das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) im Auftrag des Bundesumweltministeriums im vergangenen Sommer bestellt. In Blistern à vier Tabletten, der Packungsgröße für Einzelpersonen. Die neu georderten Medikamente sollen die in Bund und Ländern bestehende Notfallreserve von rund 137 Millionen Jodtabletten ersetzen. Um in einem radiologischen oder nuklearen Notfall einen "noch besseren Schutz der Bevölkerung durch eine weiträumigere Verteilung von Jodtabletten zu gewährleisten", so das BfS.

Anfang Juli hat das Regierungspräsidium Karlsruhe rund neun Millionen neue Jodtabletten bekommen – obwohl das rund 25 Kilometer nördlich der Stadt stehende Kernkraftwerk Philippsburg seit dem Jahreswechsel nicht mehr am Netz ist. Die Gefahr ist nicht gebannt, glauben Atomkraftgegner. Vielmehr könnten die Jodtabletten bald zum Einsatz kommen – wegen Neckarwestheim II, dem letzten noch "unter Strom stehenden" Atommeiler im Südwesten.

Dort war bei den zurückliegenden Jahresrevisionen überraschend Rostfraß an den Heizrohren der vier Dampferzeuger (DE) des Kraftwerks entdeckt worden. Vor zwei Jahren zunächst an 191 der insgesamt 16 472 Leitungen. Im Sommer 2019 wurden bei intensiver Suche weitere 101 korrodierte Rohre aufgespürt. Im Extremfall hatte der Oxidationsprozess bereits fast 90 Prozent der nur 1,2 Millimeter dicken Rohrwand weggefressen.

Unstrittig zwischen Atomkraftgegnern, der Kraftwerksbetreiberin EnBW und dem Umweltministerium als Aufsichtsbehörde ist, was passieren würde, wenn eines der Rohre durch einen kleinen Riss leckschlagen würde: Radioaktives Kühlmittel vom Primärkreislauf würde unter hohem Druck in den Sekundärkreislauf, sprich in den Turbinendampfkreislauf, und damit in die Umwelt austreten. Uneinigkeit herrscht jedoch darüber, wie wahrscheinlich dieses Szenario ist. EnBW und Atomaufsicht verweisen darauf, dass sensible Sonden selbst geringste Radioaktivität aus Minilecks registrieren würden und der Reaktor sofort heruntergefahren würde. Das Risiko sei, salopp gesagt, gut beherrschbar.


Pillen gegen den GAU
Jodtabletten (Symbolbild) by Miachael Jamaluk via PixabayWie groß der Umkreis um ein havariertes Kernkraftwerk ist, in dem Jodtabletten verteilt werden, richtet sich nach der Schwere des Unfalls. Im Worst Case wird für Erwachsene die Einnahme von Jodtabletten bis zu einer Entfernung von 100 Kilometern und für Kinder in ganz Deutschland empfohlen. Grundsätzlich sollten in den betroffenen Gebieten alle Personen bis 45 Jahre Jodtabletten einnehmen, die Dosierung hängt vom Alter ab. Personen über 45 Jahre wird von einer Einnahme abgeraten. Für sie überwiegen die Risiken von Nebenwirkungen den Nutzen der Vermeidung eines erhöhten Risikos für Schilddrüsenkrebs.
Wichtig: Die Einnahme von Jodtabletten schützt ausschließlich vor der Aufnahme von radioaktivem Jod in die Schilddrüse, nicht vor der Wirkung anderer radioaktiver Stoffe. Sie sollten nur nach ausdrücklicher Aufforderung durch die Behörden eingenommen werden – und nur in der genannten Dosis. Von einer Eigenmedikation wird dringend abgeraten.


Ganz anders sehen dies Atomkraftgegner. Sie befürchten, dass ein durch Rost geschwächtes Rohr komplett abreißen könnte. Das mit Schallgeschwindigkeit austretende Kühlwasser würde aufgrund seiner großen mechanischen Energie andere Rohre beschädigen und letztlich den Dampferzeuger zerstören. In der Folge würde, vereinfacht ausgedrückt, das komplette Kühlsystem des Reaktors leerlaufen. Der Reaktor wäre dann unkontrollierbar. Wie zuletzt im japanischen Fukushima käme es zum größten anzunehmenden Unfall, nämlich zur Kernschmelze. Dieses Worst-Case-Szenario hatte Helmut Mayer, ehemaliger Sachverständiger der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO), im Oktober 2019 im Kontext-Beitrag "Reaktor Rostiges Rohr" detailliert beschrieben.

Die Folge einer Kernschmelze im dicht besiedelten Baden-Württemberg wäre katastrophal. Millionen Menschen wären hoher radioaktiver Strahlung ausgesetzt, der gesamte Großraum Stuttgart müsste auf Jahrzehnte hin evakuiert werden. Fast schon grotesk erscheint deshalb, wie das Restrostrisiko in Neckarwestheim bis heute vom Energieversorger EnBW bekämpft wird: Entdeckte Rostrohre werden einfach zugepfropft. Daneben musste die EnBW auf Weisung der Atomaufsicht die Dampferzeuger gründlich reinigen und den rostfördernden Eisenoxideintrag in den Anlagen reduzieren. Damit stand aus Sicht der Atomaufsicht dem Wiederhochfahren des Reaktors nach Revision in 2019 nichts mehr im Wege.

"Das bloße Verstopfen einzelner Rohre, das die EnBW bisher praktiziert, ist Flickschusterei. Es missachtet sowohl die deutschen Sicherheitsanforderungen als auch weltweit anerkannte kerntechnische Sicherheitsstandards", sagt Armin Simon von ".ausgestrahlt". Zu Beginn der diesjährigen Revision Mitte Juni hat die Anti-Atom-Organisation gemeinsam mit dem BUND Baden-Württemberg, dem Bund der Bürgerinitiativen Mittlerer Neckar e.V. (BBMN) sowie vier Anrainern den Antrag bei der Atomaufsicht gestellt, Block II in Neckarwestheim grundlegend zu sanieren: Alle Dampferzeuger seien durch neue Anlagen zu ersetzen. Ein teures Vorhaben, das sich für die Betreiberin EnBW angesichts der Restlaufzeit des Kraftwerks wirtschaftlich kaum lohnen dürfte. Der Atommeiler soll Ende 2022 als letztes deutsches Kernkraftwerk vom Netz gehen.

Alternativen zum kompletten Tausch der Dampferzeuger gebe es nicht, untermauern die Initiativen mit einer Studie ihre Forderung. In ihr fällt der Reaktorsicherheitsexperte Professor Manfred Mertins ein vernichtendes Urteil, gerichtet an die Adresse von Umweltminister Franz Untersteller (Grüne). Demnach habe seine Behörde den Reaktorbetrieb unrechtmäßig zugelassen, sprich: Block II produzierte die letzten Jahre illegal Strom. Laut Mertins sind die Schäden an den DE-Heizrohren "als Betriebsstörung einzustufen und stellen somit einen Zustand dar, der der Sicherheitsebene 2 zuzuordnen ist." Ein dauerhafter Anlagenbetrieb unter diesen Bedingungen sei nach den Sicherheitsanforderungen ausgeschlossen. "Ein Betrieb des Reaktors mit vorgeschädigten oder potenziell geschädigten DE-Heizrohren sowie korrosivem Milieu ist nicht zulässig", schlussfolgert Mertins.

Zudem seien die Schadensmechanismen systemimmanent. "Trotz aller Gegenmaßnahmen ist weiterhin mit neuen Rissen und mit Risswachstum in den DE-Heizrohre zu rechnen." Das im Gemeinschaftskraftwerk Neckarwestheim GKN-II praktizierte Verstopfen bereits stark geschädigter DE-Heizrohre sei zwar als eine temporär wirkende Reparaturmaßnahme zu sehen. Sie könne jedoch "keinen Beitrag zur Eindämmung oder Beseitigung der Schädigungsmechanismen leisten". Nur durch Austausch der geschädigten Dampferzeuger-Heizrohre, gekoppelt mit einer angepassten sekundärseitigen Wasserchemie, sei die erforderliche Barrierefunktion der DE-Heizrohre wieder herstellbar, so Mertins Fazit.

Rost im Rohr ihres letzten Kernkraftwerks macht der EnBW zu schaffen
Mit Spannung dürften alle Beteiligten auf die Ergebnisse der Rohrprüfungen während der diesjährigen Revision gewartet haben. Fast wortgleich wie in den Vorjahren betonte der Energiekonzern auch in der aktuellen Presseinformation zum Start der Generalüberholung, dass die EnBW "weiterhin in das hohe Sicherheitsniveau der Anlage" investiere. "Für uns hat vor diesem Hintergrund höchste Priorität, dass GKN II stets sicher und auf hohem technischem Niveau betrieben wird", erläuterte darin Christoph Heil, der als Geschäftsführer bei der EnBW Kernkraft GmbH für den Betrieb von GKN II verantwortlich ist. Mitte Juli wolle man den Reaktor nach getaner Arbeit wieder hochfahren.

Gegen Ende der laufenden Revision gaben sich EnBW und Umweltministerium gegenüber Kontext zunächst zugeknöpft. Alle Rohre seien dicht, antwortete der Energieversorger auf die Frage nach der Anzahl neuentdeckter Rostschäden. Es sei noch zu früh, um Fragen zum Ergebnis der Antragsprüfung und zum Ergebnis der Revision beantworten zu können, vertröstete das Umweltministerium. Klar sei, dass das Kernkraftwerk "nur wieder ans Netz gehen wird, wenn es alle Anforderungen an einen sicheren Betrieb erfüllt", versicherte Sprecher Ralf Heineken in der vorvergangenen Woche.

Vor einer Woche verplauderte sich dann der Leiter der Atomaufsicht im Umweltministerium, Gerrit Niehaus, gegenüber Atomkraftgegnern während einer Protestaktion in Stuttgart. Demnach seien der Behörde neue Rostbefunde gemeldet worden, zitiert Armin Simon von ".ausgestrahlt" den Beamten. Die danach losbrodelnde Gerüchteküche zwang die Atomaufsicht offenbar, in die Offensive zu gehen. Am späten Freitagnachmittag (10. Juli) veröffentlichte das Umweltministerium auf seiner Homepage eine aktuelle Schadensbilanz: Demnach wurden an sieben weiteren Rohren "sicherheitstechnisch relevante sogenannte lineare Schäden festgestellt". Alle betroffenen Rohre werden, wie in den Vorjahren, verschlossen und damit außer Betrieb genommen. Zudem gab es "19 kleine und nicht registrierpflichtige Lochkorrosion" in Rohren an allen vier Dampferzeugern.

"Die neuen Risse zeigen, dass die EnBW das Kraftwerk nach wie vor nicht im Griff hat und uns mit jeder Stunde, die der Reaktor in Betrieb ist, einem unkalkulierbaren Risiko aussetzt", kommentieren BUND, der Bund der Bürgerinitiativen mittlerer Neckar und die Anti-Atom-Organisation ".ausgestrahlt". "Das Umweltministerium muss endlich handeln und den Austausch der vorgeschädigten Dampferzeuger zur Bedingung für einen Weiterbetrieb machen – oder das Kraftwerk ganz stilllegen!"

Die Detailauswertung der neuen Befunde durch die hinzugezogenen Sachverständigen laufe derzeit noch, sagt dagegen das Umweltministerium. Darüber hinaus befasse sich die zuständige Abteilung des Ministeriums "selbstverständlich" auch mit dem vorliegenden Antrag der Organisationen und Privatpersonen zum Widerruf der Betriebsgenehmigung für Block II von Neckarwestheim. Noch vor der Beendigung der Revision wolle man den Antragstellern Expertisen übermitteln, "die sich mit der Auffassung des von ihnen hinzugezogenen Gutachters auseinandersetzen".
Fotos: ausgestrahlt.de



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