Katastrophe schwarz auf weiß

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Katastrophe schwarz auf weiß

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Veröffentlicht von info@politogo.de in Politik · 30 März 2020
Tags: CoronaPandemieCovid19RKI
Es war in der Nacht vom 27. auf 28. Januar diesen Jahres, als die Deutsche Presseagentur die erste Infektion mit dem neuartigen Coronavirus in Deutschland vermeldet. Ein Mitarbeiter eines Automobilzulieferers im bayerischen Landkreis Starnberg ist infiziert. Er hatte sich bei einer chinesischen Kollegin angesteckt, mit milden Symptomen liegt er im Münchner Klinikum Schwabing.  „Mit einem Import von weiteren einzelnen Fällen nach Deutschland muss gerechnet werden. Auch einzelne Übertragungen in Deutschland sind möglich“, beschrieb das Robert-Koch-Institut (RKI) damals die Risikolage. Die Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland durch die neue Atemwegserkrankung bleibe weiterhin gering.‎ „Diese Einschätzung kann sich kurzfristig durch neue Erkenntnisse ändern“, so immerhin der Hinweis. Offizielle Schutzhinweise beschränkten sich noch auf Hände- und Hustenhygiene. Eine Woche zuvor, am 22. Januar, hatte RKI-Präsident Lothar Wieler in "3sat" sogar noch gesagt: „Insgesamt gehen wird davon aus, dass sich das Virus nicht sehr stark auf der Welt verbreitet.“

Eintrittswahrscheinlichkeit einmal in 100 bis 1000 Jahren


Etwa zur gleichen Zeit begann die
Bundestagsdrucksache 17/12051 im Internet zu kursieren. "Das Corona-Virus-Szenario wurde bereits durch das Robert-Koch-Institut und weiterer Bundesbehörden im Auftrag der Bundesregierung im Jahr 2012 durchgespielt und am 03. Januar 2013 in der Drucksache veröffentlicht", verlinkt etwa "Armato" am 1. Februar 2020 um 02:36 Uhr im Heise-Onlineforum auf das Dokument, das seither auf Berliner Parlamentsservern liegt. Der User zitiert aus dem "Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012", mit dem die Bundesregierung die Volksvetreter über ein potenzielles Pandemieszenario unterrichtet. Danach greifen weitere Portale die Analyse auf, die "ein außergewöhnliches Seuchengeschehen beschreibt, das auf der Verbreitung eines neuartigen Erregers basiert" - dessen Eintrittswahrscheinlichkeit damals als "bedingt wahrscheinlich" klassifiziert wurde. Sprich, nur einmal in 100 bis 1000 Jahren eintritt.

Schneller als gedacht, ist Corona nun da. Wie im realen Pandemiegeschehen beschrieben auch die RKI-Analysten vor sieben Jahren e
ine von Asien ausgehende, weltweite Verbreitung eines neuen Virus, den sie "Modi-SARS-Virus" tauften. Punktgenau formulierten sie auch, wie sich der Erreger in Deutschland ausbreitet: "Mehrere Personen reisen nach Deutschland ein, bevor den Behörden die erste offizielle Warnung durch die WHO zugeht". Ins Schwarze trafen sie auch mit der Annahme, dass das Virus nicht zu stoppen ist. "Obwohl die laut Infektionsschutzgesetz und Pandemieplänen vorgesehenen Maßnahmen durch die Behörden und das Gesundheitssystem schnell und effektiv umgesetzt werden, kann die rasche Verbreitung des Virus aufgrund des kurzen Intervalls zwischen zwei Infektionen nicht effektiv aufgehalten werden."


7,5 Millionen Tote als direkte Folge?


In Deutschland verläuft die aktuelle Corona-Pandemie bislang vergleichsweise glimpflich. Inzwischen mehren sich sogar die Stimmen, die eine Exit-Strategie aus dem derzeit gültigen Kontaktverbot fordern. RKI-Chef Wieler ist derweil vorsichtiger. Das Land stehe noch am Anfang der Welle, warnte er erst kürzlich. Zustände wie in Italien seien auch hier möglich. Ein Szenario, das die Risikoanalyse von 2012 für Deutschland explizit vorhersagt.
Die Autoren sehen drei Infektionswellen, die sich über insgesamt drei Jahre erstrecken - bis ein wirksamer Impfstoff verfügbar ist. Und sie nennen hohe Opferzahlen. "Über den Zeitraum der ersten Welle (Tag 1 bis 411) erkranken insgesamt 29 Millionen Menschen, im Verlauf der zweiten Welle (Tag 412 bis 692) insgesamt 23 Millionen und während der dritten Welle (Tag 693 bis 1052) insgesamt 26 Millionen Menschen in Deutschland."  
Erkrankungswellen in der Risikoanalyse Modi-SARS-Virus

Die enorme Anzahl Infizierter, deren Erkrankung so schwerwiegend ist, dass sie hospitalisiert sein sollten bzw. im Krankenhaus intensivmedizinische Betreuung benötigen würden, übersteige die vorhandenen Kapazitäten um ein Vielfaches. "Wenn Schutzmaßnahmen eingeführt werden und greifen, sind auf den Höhepunkten der Wellen jeweils rund 6 Millionen (1. Welle), 3 Millionen (2. Welle) und 2,3 Millionen (3. Welle) erkrankt.  Würden keine Gegenmaßnahmen durchgeführt, wären dagegen zeitgleich etwa 19 Millionen (1. Welle), 6,5 Millionen (2. Welle) und 3,3 Millionen (3. Welle) Menschen krank, so eine Gegenüberstellung. Dann der schockierenste Hinweis: Selbst bei Schutzmaßnahmen sterben von den Erkrankten rund 10 Prozent. "Für den gesamten Zeitraum von drei Jahren ist mit mindestens 7,5 Millionen Toten als direkte Folge zu rechnen".

An dieser Stelle ist innehalten angesagt. Denn bislang spricht manches dafür, dass die Sterblichkeitsrate beim realen SARS-CoV-2-Virus geringer ist. Zumindest hierzulande: Nach Statistiken der Johns-Hopkins-University, die nachweislich Infizierte und Corona-Tote in inzwischen 177 Ländern und Regionen erfasst, beträgt sie in Deutschland aktuell (Stand 30.3.2020, 14:29 Uhr) 0,87 Prozent. Anders sieht es allerdings in Italien aus, wo das Virus bislang
weltweit am tödlichsten wütet: dort sterben 11 Prozent der Infizierten.  In Spanien, das europaweit die zweithöchte Zahl an Toten zu beklagen hat, beträgt sie noch 8,6 Prozent. In den USA, wo das Virus inzwischen bei knapp 150.000 Menschen  nachgewiesen ist, sterben 1,8 Prozent der Betroffenen. Da von einer hohen Dunkelziffer auszugehen ist, viele Menschen das Virus unentdeckt und ungetestet in sich tragen, dürften die tatsächlichen Sterblichkeitsraten jedoch niedriger sein. Um wie viel, lässt sich jedoch nicht seriös sagen.

Norditalien und das französische Elsass, wo die medizinische Versorgung bereits kollabiert ist, zeigen, dass ein weiteres Szenario der RKI-Analyse nicht abwegig ist: "Das Gesundheitssystem wird vor immense Herausforderungen gestellt, die nicht bewältigt werden können. Unter der Annahme, dass der Aufrechterhaltung der Funktion lebenswichtiger Infrastrukturen höchste Priorität eingeräumt wird und Schlüsselpositionen weiterhin besetzt bleiben, können in den anderen Infrastruktursektoren großflächige Versorgungsausfälle vermieden werden. Zusätzlich erhöhe sich die Sterblichkeit auch anders Erkrankter sowie von Pflegebedürftigen, "da sie aufgrund der Überlastung des medizinischen und des Pflegebereiches keine adäquate medizinische Versorgung bzw. Pflege mehr erhalten können". In den vergangenen Tagen deutete sich diese Entwicklung an. Neben Schutzausrüstung fehlt es wegen Grenzsperrungen an ausländischen Altenpflegern.
Opferzahlen in der Risikoanalyse Modi-SARS-Virus

Frühe Entwarnung schließt die Risikoanalyse aus. Zwar werde im Laufe der Zeit der Pool der infizierbaren Personen und damit potenzieller Überträger der Infektion kleiner, da Personen, die infiziert waren und zwischenzeitlich genesen sind, nun zunächst immun gegen den Erreger seien. Letztich auch, weil andere Personen an ihrer Erkrankung verstorben sind. Nach einem Höhepunkt sinke die Neuerkrankungsrate, weil die Bevölkerung mit verstärkten Eigenschutzmaßnahmen auf das massive Krankheitsgeschehen reagiere. Allerdings, so schränken die Autoren ein, führe eine sinkende Erkrankungsrate zum Nachlassen der individuellen Schutzmaßnahmen, wodurch wiederum die Zahl der Neuerkrankungen zunehme.

"Risikoanalyse zu fiktivem Virus passt nicht zu Corona", übertitelte der Bayerische Rundfunk (BR) Mitte März einen Bericht über die Risikoanalyse von 2012. Bei dem damaligen Szenario handle es sich nicht um eine "Vorhersage", sondern um ein Maximalszenario, "um das theoretisch denkbare Schadensausmaß einer Mensch-zu-Mensch übertragbaren Erkrankung mit einem hochvirulenten Erreger zu illustrieren", erklärte das RKI auf BR-Nachfrage. Für die aktuelle Situation sei dieses Szenario nicht geeignet. Der "Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012" war eine Risikoanalyse mit einem Worst-Case-Szenario. Die dort für möglich erachtete Sterblichkeitsrate entspricht nicht der aktuellen Situation um SARS-CoV-2. "Beides in Zusammenhang zu setzen, ist Desinformation", schlussfolgerte der BR.

Alles nur Desinformation? Tatsächlich nähern sich Worst-Case-Szenarien und aktuelle Pandemie-Situation in einzelnen Sektoren bedrohlich
an. Beispielhaft im Gesundheitswesen: "Arzneimittel, Medizinprodukte, persönliche Schutzausrüstungen und Desinfektionsmittel werden verstärkt nachgefragt. Da Krankenhäuser, Arztpraxen und Behörden in der Regel auf schnelle Nachlieferungen angewiesen sind, die Industrie die Nachfrage jedoch nicht mehr vollständig bedienen kann, entstehen Engpässe", heißt es in der Analyse. Seit Tagen klagen gerade viele dieser Einrichtungen, dass ihr Bestand an Schutzausrüstungen zur Neige geht.

Noch betonen die Behörden hierzulande, dass die Versorgung der Bevölkerung gesichert ist. Die Risikoanalyse kommt zu einem anderen Ergebnis. Krankheitsbedingte Ausfälle in der Landwirtschaft führten "mitunter zu deutlichen Verlusten" in der landwirtschaftlichen Produktion. Tatsächlich herrscht an Erntehelfern bereits Mangel. Zwar nicht durch Infektion, sondern behördlich geschlossen Grenzen. Die Versorgung mit Lebensmitteln sei nicht "in gewohnter Menge und Vielfalt möglich", erwartet die Analyse. Mit Ladenschließungen sei zu rechnen, "jedoch nicht flächendeckend", so die einzig beruhigende Vorhersage.

Richtig vorausgesagt haben die RKI-Analysten auch, was inzwischen in Italien und Spanien trauriger Alltag ist: "Aufgrund der hohen Sterberate stellt auch die Beisetzung der Verstorbenen eine große Herausforderuing dar (Massenanfall an Leichen, Sorge vor Infektiosität)."  

User Armato, der Anfang Februar als einer der ersten die Risikoanalyse aus der virtuellen Schublade holte, ist sich sicher: "Damals wurde ein Szenario durchgespielt, welches in genau dieser Form jetzt eintritt."

Hinweis:
Der Autor hat Anfragen an Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) und RKI in Bezug auf die Risikoanalyse Modi-SARS-Virus gestellt.

Update 30.3. 2020, 16:50
Das BMG hat auf die Anfrage geantwortet:

Frage: Welche Erkenntnisse berücksichtigt das BMG aus dieser Analyse in der aktuellen Corona-Pandemie? Wie realsitisch ist, dass es in der aktuellen Corona-Pandemie hierzulande zu den in der Analyse erwähnten Szenarien (Zusammenbruch des Gesundheitssystems, Versorgungsenpässe Lebensmittel) kommt?
Antwort BMG: Unterschiedliche Viren und ihre Ausbreitung sind aber nur in sehr begrenztem Maße miteinander vergleichbar. Die Risikoanalyse Bevölkerungsschutz Bund wird vom Bundesministerium des Innern bzw. seinem Geschäftsbereich vorgelegt. Die Annahmen sind - wie in der Bundestagsdrucksache selbst ausgeführt – vereinfacht und hypothetisch. Es handelt sich um eine Modellierung.

Frage: Warum wurde lange (bis in den Februar hinein) seitens BM Spahn  nur Hand- und Hustenhygiene als Schutzmaßnahme empfohlen, obwohl die Analyse von nicht zu stoppender Durchseuchung der Bevölkerung ausgeht?
Antwort BMG:  - -

Frage: Hätten Engpässe bei Schutzausrüstung vermieden werden können, wenn die Erkenntnisse der Risikoanalyse schnell in entsprechende Handlungen (Exportverbot, Beschaffung) umgesetzt worden wären?
Antwort BMG: Aufgrund der weltweit steigenden Infektionszahlen mit dem neuartigen Coronavirus ist die Nachfrage nach medizinischer Schutzausrüstung stark gestiegen. Dies führt wiederum zu weltweiten Lieferengpässen. Zwischenzeitlich hat das BMG zentral die Beschaffung der dringend benötigten Gegenstände der persönlichen Schutzausrüstung insbesondere für das Gesundheitswesen übernommen. Zur Deckung des Bedarfs wurden mit Hilfe der Beschaffungsämter des Bundesministeriums für Verteidigung, des BMI und der Generalzolldirektion bei unterschiedlichen Händlern und Lieferanten die benötigten Gegenstände in unterschiedlichen Kontingenten beauftragt.
Ende vergangener Woche hat das BMG damit begonnen, medizinische Schutzausrüstung auszuliefern. Dazu zählen auch Schutzmasken. Bis Ende letzter Woche wurden an die Länder und die Kassenärztlichen Vereinigungen knapp 20 Mio. Masken, 15 Mio. Handschuhe, 130.000 Schutzanzüge, 23.000 Schutzbrillen und 91.000 Liter Desinfektionsmittel ausgeliefert.
Seit dem 27.03.2020 beschafft das Bundesministerium für Gesundheit medizinische Schutzausrüstung u.a. im sogenannten Open-House-Verfahren. Dabei werden Schutzausstattung (sog. FFP2-Masken, 3ply(OP/Mund-Nasenschutz)-Masken und Schutzkittel) zu einem festen Preis erworben. Voraussetzungen sind, dass die Mindestlieferungsmengen (25.000) erreicht werden, die Schutzausstattung den geforderten Spezifikationen entspricht und zum genannten Lieferort transportiert wird. Die Kaufbedingungen sind nicht verhandelbar.

Update 31.3. 2020, 10:00 Uhr:

Das RKI teil auf Anfrage, welche Erkenntnisse aus der Risikoanalyse 2012 beim aktuellen Pandemiegeschehen berücksichtig werden, mit:
Eine Pandemie durch ein neu auftretendes Virus anzunehmen, ist das übliche Vorgehen bei solchen Modellierungen. Beschrieben wurde ein Maximalszenario, um das theoretisch denkbare Schadensausmaß einer Mensch-zu-Mensch übertragbaren Erkrankung mit einem hochvirulenten Erreger zu illustrieren und die hiervon betroffenen Bereiche zu sensibilisieren. Die der Risikoanalyse zugrunde gelegten Maßnahmen sind dabei die Maßnahmen, die das RKI grundsätzlich - auf das jeweils aktuelle Infektionsgeschehen spezifisch angepasst - empfiehlt. (---)
Solche Szenarien und Übungen, wie z.B. auch die LÜKEX 2007, dienen daher nicht als Vorhersage, sondern um die aus ihnen gewonnenen Erkenntnisse in die jeweiligen Pandemiepläne einfließen zu lassen, um bestmöglich auf die jeweilige Situation reagieren zu können.



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